Viele Menschen sehnen sich nach Lockerungen der derzeitigen
Kontaktsperre. Doch Gary Zörner, Geschäftsführer des Delmenhorster
Labors für Chemische und Mikrobiologische Analytik (Lafu), rät dringlich
davon ab.
Gary Zörner vom Lafu-Labor fordert jetzt in der Corona-Krise Durchhaltevermögen und kritisiert die Lockerungsmaßnahmen. (Ingo Möllers)
„Wer jetzt nicht seinen Teil beiträgt, hat kein Mitgefühl für die Erkrankten, die möglicherweise Langzeitschäden davontragen, für die Verstorbenen und deren Angehörige sowie für all die Pflegekräfte und Ärzte, mit denen die Pandemie ja auch etwas macht“, sagt Gary Zörner. Der Geschäftsführer des Delmenhorster Labors
für Chemische und Mikrobiologische Analytik (Lafu) ist derzeit recht aufgebracht.
Das liegt an Covid-19, an der Regierung und ihren Entscheidungen sowie an Mitbürgern, die nicht verstehen, wie wichtig es jetzt ist, dass sie sich an die nötigen Hygienemaßnahmen halten.
„Das Problem ist, dass wir nie gelernt haben, wie Bakterien und Keime uns krank machen und wie sie übertragen werden“, sagt Zörner, der sich in seinem Labor seit etlichen Jahren mit diesem Thema beschäftigt. „Selbst Ärzte behandeln in ihrem Studium nie richtig das Thema Umweltmedizin, wo sie lernen würden, von welchen Keinem wir dauernd umgeben sind und welche uns krank machen.“ Hinzu komme, dass die Gesellschaft so geprägt sei, dass es bei allem, was man tue, ums Geld
gehe und nicht ums Menschliche. Dieses Unwissen und diese Prägung würden sich nun in der Corona-Krise rächen. Denn bei Covid-19 handele es sich um „eine unsichtbare Gefahr“ wie es Zörner ausdrückt. Und mit solcherlei Gefahren kennt man sich am Lafu aus. „Es gibt vor allem zwei Übertragungswege: durch die Luft und durch Kontakt. Beides auf unsichtbarem Wege“, sagt Zörner.
Das eine Problem sind die sogenannten Aerosole. „Das sind winzigste Tröpfchen,
die uns beim Sprechen aus dem Mund fliegen. Wenn wir laut sprechen, sind die Aerosole etwas größer und schwerer und fallen kurz vor unserem Mund schon zu Boden. Wenn wir leiser sprechen, sind sie sehr fein und fliegen entsprechend weiter. Beim Joggen ziehen wir eine etwa fünf Meter lange Aerosol-Fahne hinter uns her“, erklärt Zörner und fährt fort: „Deshalb ist es jetzt so wichtig, dass wir alle Gesichtsmasken tragen. Selbst der einfachste Schal vor dem Gesicht ist schon eine Hilfe, um zumindest einen Großteil der Aerosole zurückzuhalten. Alles kann man sowieso kaum aufhalten. Darum ist es ebenso wichtig, auch den Abstand von eineinhalb Metern einzuhalten.“
Der Abstand habe auch mit dem zweiten Übertragungsweg zu tun: dem Kontakt.
„Die Hände sind der Hauptüberträger von Krankheiten“, sagt Zörner. Er erklärt:
„Man sieht das zum Beispiel auf Türklinken. Die sind in der Regel voll von Keimen.
Man fasst sie mit ungewaschenen Händen an, hinterlässt dort Keime, dann fasst sie der nächste an und nimmt die Keime an seinen Händen mit.“ Darum solle man Einweghandschuhe anziehen oder zumindest ein Papiertuch verwenden, wenn man etwas berührt, was auch andere anfassen. Zudem sollte man unbedingt regelmäßig seine Hände mit Seife waschen, „auch zwischen den Fingern und unter den Nägeln“, betont Zörner.
Wer die derzeitigen Hygienestandards nicht einhält, handele nicht nur sich selbst gegenüber fahrlässig, sonder auch anderen gegenüber. Denn unter guten Lebensbedingungen können Viren ihre Population innerhalb von 20 Minuten verdoppeln. „Und da sind wir beim exponentiellen Wachstum“, erklärt Zörner. Genauso verhalte es sich mit dem Übertragungsfaktor. Gibt ein Infizierter den Virus
an drei Menschen weiter, geben sie es schon an neun weitere Menschen weiter. „Deshalb ist das Unterbrechen der Kette so wichtig“, macht Zörner deutlich.
Doch das ist seiner Meinung nach noch lange nicht in Sicht. Zörner wirft der Bundesregierung Fahrlässigkeit vor: „Seit 2013 weiß der Bundestag um die
Gefahren einer solchen Pandemie und hat einen Plan, den man nur hätte abarbeiten müssen. Stattdessen hat unser Gesundheitsminister die Gefahr von Covid-19 wochenlang ignoriert und heruntergespielt. Man hat sogar noch fröhlich Karneval feiern lassen, weil das so ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist. Dadurch ist in Deutschland die Infektionswelle ja erst ins Rollen gekommen“, moniert der Lafu-
Chef. Und er ist noch nicht fertig: „Vor drei Wochen sind sogar noch Flugpassagiere aus Italien in Deutschland ohne Kontrolle aus den Flugzeugen gestiegen und haben lustig das Virus in Deutschland verteilt. Und nun wird aus wirtschaftlichen Gründen darüber nachgedacht, wieder mit der Fußball-Bundesliga zu beginnen, obwohl das
nun wirklich nicht überlebenswichtig ist. Das birgt doch lauter Gefahren: Fußball-
Fans könnten sich vor den Stadien versammeln oder sich zu Hause zusammentun,
um gemeinsam vor dem Fernseher zu sitzen.“
Die geplanten Lockerungen der Kontaktsperre sieht Zörner sehr kritisch, da noch
nicht erwiesen ist, dass man nach einer Erkrankung mit Covid-19 anschließend
wirklich immun ist, wie einige Fälle in Südkorea gezeigt haben. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt dringlich vor der Möglichkeit einer Wiederansteckung. „Solche Dinge sind jetzt entscheidend, bevor man Lockerungen einführt“, sagt Zörner. „Wenn es die Herdenimmunität gar nicht gibt und
Lockerungen eingeführt werden, haben wir bald italienische oder New Yorker Verhältnisse“, warnt er. „Zumal im Herbst das Risiko einer zweiten Infektionswelle hoch ist, und die könnte uns deutlich schlimmer treffen. Ein Übertragungsfaktor
von 1,0 wäre dann eine riesige Katastrophe.“
Eine flächendeckende Ansteckung könne auch noch bevorstehen, wenn man sich in Deutschland mit einem Übertragungsfaktor von 1,0 oder 0,7 begnügen würde, wie
ihn die Bundeskanzlerin anpeilt. Bevor über Lockerungen nachgedacht wird, müsse
der Faktor auf 0,3 gesenkt werden, meint Zörner. „Zumal man die Menschen ja auch
in furchtbare Entscheidungsbedrängnis bringt. Die Schulöffnungen gehen meiner Meinung nach gar nicht. Was ist, wenn ein Schüler ein Elternteil hat, das eine Vorerkrankung hat? Dann soll der in die Schule gehen und riskieren, seinen Eltern Corona ins Haus zu bringen?“, gibt Zörner zu bedenken und ergänzt: „Wir müssen
jetzt vor allem Menschlichkeit walten lassen.“
Annika Lütje